Rede des CDU-Landtagsabgeordneten Dr. Max Matthiesen zu TOP 38 „Bundesteilhabegesetz zum Fortschritt für Menschen mit Behinderungen machen“

– Es gilt das gesprochene Wort! –

Das geplante Bundesteilhabegesetz und sein Vorlauf haben Bund und Länder in den letzten Jahren sehr beschäftigt. Es ist eines der größten sozialpolitischen Reformwerke der letzten Jahre und wird die Eingliederungshilfe stark verändern.

Ziel des Entschließungsantrages der CDU-Landtagsfraktion ist es, im Schlussspurt des Gesetzgebungsverfahrens noch wichtige Verbesserungen am Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums zu erreichen.

Von Juli 2014 bis April 2015 hat die Arbeitsgruppe zum Bundesteilhabegesetz beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales  ihre Vorstellungen erarbeitet und einen Abschlussbericht mit mehreren hundert Seiten vorgelegt. In dieser Arbeitsgruppe waren Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände nach dem Grundsatz der Selbstvertretung „Nichts über uns ohne uns“ vertreten. Sie haben an die Reform der Eingliederungshilfe im neuen Bundesteilhabegesetz hohe Erwartungen gestellt.

Ich nenne zentral:

  1. Anstelle der bisherigen Sozialhilfe mit Bedarfsprüfung und Einkommens- und Vermögensabhängigkeit die Einführung eines Nachteilsausgleichs mit einer einkommens- und vermögensunabhängigen Leistung zur Teilhabe. Es müsse der Nachteil der Behinderung ausgeglichen werden, um den Stand eines nichtbehinderten Menschen zu erreichen.
  2. Die mit der Aufgabe der Trennung von ambulant und stationär verbundende stärkere Personenzentrierung der Leistungen.
  3. Die verbesserte Verknüpfung der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) mit dem ersten Arbeitsmarkt auch mit Hilfe von Arbeitsassistenz, dem Budget für Arbeit und der praktischen Umsetzung von Berufsbildern im Baukastenprinzip mit Teilqualifikationen.
  4. Individuelle Bedarfsermittlung bei weiterhin offenem Leistungskatalog.

Der Gesetzentwurf des BMAS liegt auf der Linie dieser Forderungen, ohne ihnen allerdings im vollen Umfang gerecht zu werden:

  • Er enthält positive Ansätze zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe von einem

„Fürsorgesystem“ zu einem Teilhaberecht.

  • Die Eingliederungshilfe soll nicht mehr an bestimmte Wohnformen gekoppelt werden, sondern durch Personenzentrierung stärker dem individuellen Bedarf entsprechen.
  • Dadurch soll die Trennung ambulant-stationär wegfallen. Ziel ist es, unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts der Menschen mit Behinderung auch künftig dem individuellen Bedarf entsprechendes Wohnen zu ermöglichen.
  • Und damit soll die Trennung von Fachleistungen und Leistungen zum Lebensunterhalt einschließlich Wohnen in der Weise erfolgen, dass künftig nur noch die Fachleistungen
    (z. B. Assistenz, Mobilität, Hilfsmittel) Eingliederungshilfe darstellen. Sie wird in das SGB IX überführt und damit aus der Sozialhilfe herausgelöst.
  • Die Anrechnung von Einkommen und die Heranziehung von Vermögen soll in zwei Stufen zum 1.1.2017 und 1.1.2020 zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen verbessert werden. Insbesondere bleiben Einkommen und Vermögen des Partners ab 2020 anrechnungsfrei.
  • Schaffung unabhängiger Beratungsangebote, die allen Menschen mit Behinderung zur Klärung ihrer Teilhabebedarfe offen stehen. Und das mit einem Schwerpunkt auf dem „peer counseling“ d. h. Beratung von Menschen mit Behinderungen durch Menschen mit Behinderungen.

Dennoch gibt es in einigen wesentlichen Punkten dringenden Nachbesserungsbedarf am Gesetzentwurf des BMAS.

Ich nenne hier insbesondere 5 Punkte, bei denen die niedersächsische Landesregierung im Gesetzgebungsschlussspurt besonders gefordert ist.

Dies wird im Übrigen auch die landesweite Demonstration des Verbändebündnisses nächste Woche am 22. September in Hannover unterstreichen. Vielleicht könnte der Sozialausschuss unter Vorsitz von Holger Ansmann dann ja seine Sitzung unterbrechen und an der Demonstration teilnehmen?

  1. Der Zugang zur Eingliederungshilfe darf künftig nicht einschränkend voraussetzen, dass in mindestens 5 bzw. 3 von 9 Lebensbereichen erhebliche Teilhabeeinschränkungen vorliegen müssen (§ 99 SGB IX Regierungsentwurf). Für Menschen mit nicht erheblicher einfacher Teilhabebeschränkung darf nicht nur eine Ermessungsregelung eingeführt werden.

    Sondern es muss ein Anspruch auf Eingliederungshilfe formuliert werden. Anderenfalls würden Menschen aus der Eingliederungshilfe herausfallen, die auf dieses Unterstützungssystem angewiesen sind. So hat die Lebenshilfe Delmenhorst meiner Kollegin Anette Schwarz gerade vorgerechnet, dass nach dem vorliegenden Regierungsentwurf von rund 500 Menschen, die vor Ort von der Lebenshilfe Eingliederungshilfen erhalten, 165 keine Unterstützung mehr erhielten. Das wäre ein Drittel.

    Im ambulanten Wohnen etwa ist die Fachleistung von nur wenigen Stunden pro Woche in Gefahr. Oder sehbehinderte Schüler, aber nicht blinde Schüler, müssten auf die Finanzierung von Hilfsmitteln aus der Eingliederungshilfe zur Ermöglichung des Abiturs verzichten.

  1. Das „Mindestmaß verwertbarer Arbeit“ als Voraussetzung für den Zugang zu einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) gemäß § 219 SGB IX Regierungsentwurf ist ersatzlos zu streichen, damit Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf künftig Zugang zu WfbM haben.

    Dies ist ein Punkt, der betroffene und sehr engagierte Streiter für die Teilhabe an beruflicher Bildung auch dieser besonders unterstützungsbedürftigen Menschen am meisten aufregt.

    Alle Menschen mit einer Behinderung müssen unabhängig von der Art ihrer Beeinträchtigung und dem Umfang ihres Unterstützungsbedarfes uneingeschränkten Zugang zu einer WfbM haben.

    Der individuelle Hilfebedarf für alle Menschen mit Behinderung wird nach demselben Verfahren (MHB-T) ermittelt. In der Folge werden für Werkstattbeschäftigte und für Menschen in Fördergruppen die gleichen Kosten ermittelt. Damit gibt es keinen Grund für die Zurückstellung einer kleinen Gruppe.

  1. Das Gleichrangverhältnis zwischen der Eingliederungshilfe nach SGB IX Regierungsentwurf und den Pflegeversicherungsleistungen nach SGB XI ist beizubehalten. Die Eingliederungshilfen müssen Vorrang gegenüber der Hilfe zur Pflege gemäß SGB XII haben.

    Dem gegenüber treten nach dem Regierungsentwurf künftig Pflegeversicherungsleistungen und Eingliederungshilfen im häuslichen Umfeld in ein Vorrang-Nachrang-Verhältnis. Damit wäre im häuslichen Umfeld/Ambulanten Wohnen künftig keine parallele Gewährung von pflegerischen Leistungen und Eingliederungshilfen möglich. Die Eingliederungshilfen fielen weg. Hier geht es zum Beispiel um den Erwerb von Fähigkeiten und die ständige Übung im alltagspraktischen Bereich zur selbstständigen Haushaltsführung oder zur Teilhabe an häuslichen Aktivitäten.

    Die Delmenhorster Lebenshilfe als Beispiel hat ausgerechnet, dass von den zurzeit 500 Leistungsberechtigten 55 ganz in die Pflegeversicherung rutschen könnten. Dies würde das Leben in ambulant betreuten Wohngruppen erschweren und den Trend umkehren in Richtung Heim.

    Ebenso wenig darf es aus fiskalischen Gründen zu Verschiebungen von Teilhabeleistungen in die Hilfe zur Pflege kommen. Vielmehr ist der bestehende gesetzliche Grundsatz des Vorrangs der Teilhabe vor Pflege beizubehalten.

  1. Die Privilegierung von Leistungsberechtigten im Erwerbsleben mit umfassenden Leistungen der Eingliederungshilfe einschließlich Hilfe zur Pflege aus einer Hand ist aufzuheben.

    Anderenfalls entstünde eine 2-Klassen-Gesellschaft. Nur erwerbstätige Menschen erhielten künftig in der eigenen Häuslichkeit bzw. im ambulant betreuten Wohnen bedarfsdeckende Eingliederungshilfeleistungen, die die ergänzenden Leistungen der Hilfe zur Pflege mit beinhalten. Beschäftigte in WfbM wären von der Privilegierung ausgeschlossen und auf pflegerische Leistungen verwiesen.

    Ob jemand erwerbstätig ist, darf  nicht darüber entscheiden, ob er Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege erhält,  also nach Inhalt, Umfang und Qualität unterschiedliche Leistungen.

  1. Die Qualitätsanforderungen an die WfbM bei der Rehabilation der Werkstattbeschäftigten mit Behinderung müssen gesetzlich auch für die neuen „anderen Leistungsanbieter“ gelten. Um die gleiche Qualität „anderer Leistungsanbieter“ wie diejenige der WfbM zu sichern, muss gesetzlich klargestellt werden, dass nicht nur die Vorschriften für Werkstätten grundsätzlich auch für „andere Leistungsanbieter“ gelten, sondern ausdrücklich auch Werkstättenverordnung und die Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung.

Ich habe vorletzte Woche an einer Bund-Länder-Besprechung auf Unionsseite mit der federführenden Parlamentarischen Staatssekretärin im BMAS, Frau Lösekrug-Möller (SPD) teilgenommen. Im Schlussspurt des Gesetzgebungsverfahrens in Bundestag und Bundesrat bis Ende des Jahres scheinen danach noch Verbesserungen möglich zu sein.

Die CDU-Landtagsfraktion bittet deshalb um möglichst kurzfristige Beratung und Beschlussfassung des Entschließungsantrages als Beitrag zu einem Bundesteilhabegesetz, das zum Fortschritt für Menschen mit Behinderungen wird.

veröffentlicht am 16.Sep.2016